Das Glück im Westen machen
Die Mauer ist weg und die Welt steht uns offen! Es ist der 10. Januar 1990. Zusammen mit Lothar, einem Kumpel aus der Seminargruppe, fahre ich gen Westen. Es ist nur ein Trabi und entsprechend „schnell“ kommen wir auf der A2 voran. Rechte Spur, fast eingeklemmt zwischen den LKW, denn bei einem Tachostand von 100 bis 110 km/h ist Schluss. Mehr bringt die Rennpappe nicht.
Einen konkretenPlan gibt es nicht, einfach mal umsehen, im Westen. Was ist wirklich dran, kann man dort „sein Glück machen“? Wir haben von Leuten gehört, die „rüber gegangen“ sind. Neuer Job, neues Leben, das sagt sich so einfach. Ich will es mit eigenen Augen sehen und dann entscheiden.
Ein grauer Januartag in Hannover. Irgendwo finden wir einen Parkplatz. Was wir jetzt noch brauchen, ist ein Stadtplan. Den bekommt man in fast jeder Bank. Für die „Ossis“ wurde sogar eine Sonderausgabe Niedersachsen gedruckt.
Was hier anders ist, als bei uns in Magdeburg? Die Geschäfte sind voll! Doch mit 100 D-Mark in der Tasche, bzw. dem, was vom Begrüßungsgeld noch übrig ist, ist nicht groß an Einkaufen zu denken.
Da heißt es erst einmal die Nasen platt zu drücken und in Gedanken Wünsche zu äußern, was man denn gern kaufen WÜRDE, wenn man denn das Geld HÄTTE. Wünsche gibt es viele. Besonders in puncto Elektronik. Ein Kassettenrecorder mit zwei Laufwerken! Das wäre doch was!
Mich interessiert vor allem die Fototechnik. Bei den Preisen wird eine neue Kamera noch lange nur ein Traum bleiben.
Nachdem wir uns genug die Sohlen abgelatscht haben und der Hunger groß ist, kehren wir zum Trabi zurück. Thermosflasche und Stullenpaket sind unsere Verpflegung. Denn die Finanzen wollen sparsam und sinnvoll eingesetzt sein, keine unnötigen Ausgaben. Wir sind sozusagen auf fremden Territorium, ohne jede Möglichkeit, uns mit weiteren Barmitteln zu versorgen. Und so steht auch eine kostenpflichtige Übernachtung im Hotel völlig außer Frage. Doch was tun?
Ich habe gehört, dass bei der Touristinformation Besuchern aus dem Osten Unterkünfte vermittelt werden. Da wir keinen Bock auf Hannover haben, fahren wir Richtung Hildesheim. Mittlerweile wird es dunkel und die Hoffnung schwindet. Irgendwie, ich weiß nicht wieso, fällt mir ein, dass, wenn man bei der Kirche anklopft, der Pfarrer einen nicht abweisen wird.
In Pattensen versuchen wir unser Glück. Im Pfarrhaus wird sogleich telefoniert und es dauert nicht lange, bis wir von Familie Wippermann, die uns freundlich in ihr Einfamilienhaus einlädt, abgeholt werden. Und was die da alles haben: einen Herd, so was hab‘ ich noch nicht gesehen, mit einer Kochplatte aus Glas (ja, das heißt CERAN – aber wer weiß das schon ). Und eine Dusche, die kommt uns gerade Recht, so durchgefroren, wie wir sind. Ohne Seife!? im Westen gibt’s was, das nennt sich DUSCHBAD. Praktische Erfindung.
Nach dem Abendessen geht’s noch einmal nach Hannover, auf den Campus. Diesmal mit einem Polo. Der ist zwar auch nicht viel größer, aber schneller und man fährt bequemer, als im Trabbi.
Arno, der Sohn, ist Mitglied einer Studentenverbindung – noch nie gehört – und wir sind eingeladen: beim „Hannoverschen Wingolf “ . Einige der Studenten tragen so komische Klamotten und Mützen, die an Heinrich Manns „Der Untertan“ erinnern.
Vielleicht ist es ja auch so, dass man seinen Ost-Besuch vorstellen möchte. Ist mir eigentlich egal, denn was zählt, ist der schöne Abend.
Nächsten Morgen – wir dürfen noch eine weitere Nacht in Pattensen bleiben – schmiert uns Frau Wippermann ein paar Stullen.
Diesmal geht die Fahrt nach Celle. Wir wollen uns kundig machen und suchen den Hilfsdienst für Übersiedler auf, wo wir uns in die Schlange der Wartenden einreihen. Sind das die Menschen, die im Westen neu anfangen wollen? Nicht gerade das, was ich erwartet habe ( falls ich überhaupt eine Erwartung hatte). Teilweise schäbige Kleidung, manche mit Bierbüchsen in der Hand. Lothar und ich sind uns einig: mit denen wollen wir nichts zu tun haben, oder in Verbindung gebracht werden. So machen wir auf dem Absatz kehrt. Ernüchtert.
Freitag, 12. Januar 1990, jetzt heißt es dann Abschied nehmen. Wir bedanken uns bei den Wippermanns für ihre Gastfreundschaft.
Das Resümee unserer Reise: es gab und es gibt für uns keinen Grund, warum wir in die Bundesrepublik (zu diesem Zeitpunkt war offiziell noch nicht von Wiedervereinigung die Rede) übersiedeln sollten. Die kochen auch nur mit Wasser.
Was wir in diesen Tagen erleben, es ist alles so neu, so ungewohnt. Es ist eine andere Welt, in der (manche) Dinge nicht so funktionieren, wie man das gewohnt ist. Vieles muss man erst lernen, Denkweisen umstellen. Es beginnt eine neue Zeitrechnung, soviel jedenfalls steht fest.